I. Die Problemlage
Geschäftsführer unterliegen gemäß §§ 34, 69 AO und §§ 823 Abs. 2 BGB, 266a StGB der persönlichen Haftung für die Erfüllung der steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten. In einer Situation drohender Insolvenz stehen Geschäftsführer vor einem Dilemma: Wenn sie die ausstehenden Zahlungen leisten, verstoßen sie gegen das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung und setzen sich einer persönlichen Haftung gemäß § 15b InsO aus. Unterlassen sie die Zahlungen, besteht die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung und einer persönlichen Haftung für die Steuern und der sozialversicherungsrechtlichen Verbindlichkeiten.
Um die Frage der Haftung von Geschäftsleitern zu klären, hatte der II. Zivilsenat entschieden, dass die Pflicht zur Sicherung der Insolvenzmasse hinter den Verpflichtungen zur Abführung von Lohnsteuer, Umsatzsteuer an den Fiskus sowie der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer (nicht der Arbeitgeberanteile) zurücktritt, sobald die Gesellschaft insolvenzreif ist. Diese Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verankert und wurden so durch das Urteil vom 25. Januar 2011 (Az.: II ZR 196/09) bestätigt. Demnach führen solche Zahlungen nicht zu einer Haftung des Geschäftsleiters, da sie mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar sind.
II. Einführung des § 15b Abs. 8 InsO
Um die Problematik gesetzlich zu regeln und insbesondere im Hinblick auf steuerliche Verbindlichkeiten Klarheit zu schaffen, hat der Gesetzgeber § 15b Abs. 8 InsO eingeführt. Diese Regelung wurde durch das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG) implementiert.
Der Wortlaut der Regelung lässt wenig Interpretationsspielraum. Nach der eindeutigen Formulierung gilt die Ausnahme des Zahlungsverbots ausschließlich für Steuern und nicht für Sozialversicherungsbeiträge. Die Frage ist somit, ob diese Regelung auch auf Sozialversicherungsbeiträge analog anzuwenden ist, die nach § 266a StGB strafbewehrt sind. Dies ist grundsätzlich möglich, wenn eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage vorliegen. Allerdings fällt auf, dass es bereits an der ersten Voraussetzung zu fehlen scheint. Zum Zeitpunkt der Einführung des § 15b Abs. 8 InsO war in Literatur und Praxis sowohl das Problem der Pflichtenkollision bei Steuern als auch bei Sozialversicherungsbeiträgen bekannt. Der Gesetzgeber hat sich jedoch offenbar bewusst dafür entschieden, eine Ausnahme vom Zahlungsverbot ausdrücklich nur für Steuern zu schaffen. Hätte der Gesetzgeber auch die Sozialversicherungsbeiträge mit dem § 15b Abs. 8 InsO abdecken wollen, hätte er dies entsprechend geändert. Daher fehlt es bereits an der Planwidrigkeit der Regelungslücke.
III. Kein gesetzlicher Regelungsbedarf?
Ein oft von Vertretern einer analogen Anwendung angeführtes Argument ist, dass die richtige Lösung für die Sozialversicherungsbeiträge bereits auf der Grundlage der bisherigen strafrechtlichen Rechtsprechung gefunden werden kann, auf die auch die Gesetzesbegründung knapp Bezug nimmt (so bspw. Bitter, GmbHR 2022, 57-72 mit Bezug auf: BGH, Beschluss vom 30. Juli 2003 – 5 StR 221/03).
Nach diesem Beschluss des BGH ist die Pflicht zur Abführung der Arbeitnehmerbeiträge nur innerhalb der dreiwöchigen Frist zur Stellung des Insolvenzantrages (§ 64 Abs. 1 GmbHG a.F.; § 15a Abs. 1 InsO) suspendiert. Lässt der Geschäftsführer trotz fortbestehender Insolvenzreife diese Frist verstreichen, ist im Hinblick auf die Strafvorschrift des § 266a Abs. 1 StGB der Rechtfertigungsgrund entfallen, der sich aus der innerhalb der Insolvenzantragsfrist vorzunehmenden Prüfung der Sanierungsfähigkeit ergibt. Nach diesem Zeitpunkt hat er dann aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vorrangig die Beiträge im Sinne des § 266a Abs. 1 StGB zu erbringen. Derjenige Verantwortliche, der bei gegebener Insolvenzreife erkennt, dass für das Unternehmen keine Sanierungsmöglichkeit mehr besteht, und trotzdem keinen Insolvenzantrag stellt, kann sich jedenfalls in strafrechtlicher Hinsicht nicht auf den Grundsatz der Massesicherung (§ 64 Abs. 2 GmbHG) berufen, wenn er das Unternehmen dennoch weiter führt. Ihm ist nämlich ohne weiteres möglich, sich aus dieser (nur scheinbaren) Konfliktlage dadurch zu befreien, dass er seiner Pflicht aus § 64 Abs. 1 GmbHG a.F.; § 15a Abs. 1 InsO nachkommt und den gebotenen Insolvenzantrag stellt (vgl. BGH, Beschl. v. 9.8.2005 - 5 StR 67/05 - wistra 2006, 17; Gross/Schork NZI 2004, 358, 362).
Angesichts dieser Situation bestünde letztlich keine zwingende Notwendigkeit für die Einführung der neuen klärenden Regelung zu Sozialversicherungsbeiträgen, da der Gesetzgeber im Bereich des Strafrechts bereits durch die dortige Rechtsprechung des V. Strafsenats des BGH eine ausreichende Klärung sah.
Die Rechtslage wurde jedoch undurchsichtiger durch Entscheidungen des II. Zivilsenats, der die Pflichtenkollision zu lösen versuchte, indem die Pflicht zur Massesicherung zurücktritt. Dies steht im Gegensatz zur Lösung des Strafsenats, der die straf- und steuerrechtlichen Abführungsgebote aussetzte (Bitter, ZIP 2021, 321-336, 327). Die Lösung des Strafsenats entspricht zwar dem Willen des Gesetzgebers für steuerliche Verbindlichkeiten, da dies nun zumindest in § 15b Abs. 8 InsO festgelegt ist. Es erscheint aber nicht schlüssig, warum sich der Gesetzgeber in dieser unsicheren Rechtslage nicht eindeutig positionieren sollte. Vertreter der Analogie wollen eine Gleichbehandlung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in die Gesetzesbegründung lesen, in der es den Rechtsanwendern überlassen bleibt, sich mit der umstrittenen Rechtsprechung des BGH auseinanderzusetzen und eine Position für die Sozialversicherungsbeiträge zu wählen. Die Argumentation verkennt, dass allein das Schweigen des Gesetzgebers zu einem rechtlichen Problem noch lange keinen Analogieschluss begründen kann.
IV. Umgang mit Arbeitgeberanteilen
Der Streit über die analoge Anwendung auf Sozialversicherungsbeiträge bezog sich überwiegend auf die Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherungsbeiträge. Die Arbeitgeberanteile sind jedoch nicht vom Streit ausgenommen, zumal eine analoge Anwendung auch für diese gelten könnte.
Grundsätzlich sollte die Bezahlung der Arbeitgeberanteile im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebs während der Insolvenzantragsfrist zulässig sein, jedenfalls solange eine analoge Anwendung von § 15b Abs. 8 InsO auf Sozialversicherungsbeiträge nicht in Betracht gezogen wird. Denn schließlich soll, laut den Vertretern der Analogie, nicht am Rechtsgedanken des II. Zivilsenats festgehalten werden (ansonsten bestünde keine Abführungspflicht der Arbeitgeberanteile: BGH, Urteil vom 8. 6. 2009 - II ZR 147/08), sondern an dem des V. Strafsenats. Selbst Befürworter einer Analogie beziehen sich jedoch nur auf die Arbeitnehmerbeiträge. Ein solcher Ansatz würde mithin zu einem Durcheinander führen: Der Geschäftsleiter wäre dann während der Insolvenzantragsfrist verpflichtet, die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebs abzuführen, selbst wenn für das schlichte Vorenthalten der Arbeitgeberbeiträge keine Strafbarkeit nach § 266a Abs. 2 StGB gilt. Gleichzeitig dürfte er jedoch die Arbeitnehmeranteile aufgrund des Analogieschlusses zu § 15b Abs. 8 InsO privilegieren und daher nicht abführen. Dies zeigt, wie kurios die analoge Anwendung von § 15b Abs. 8 InsO auf die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung ist und widerlegt das Argument, dass es aufgrund der strafrechtlichen Privilegierung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung keinen Korrekturbedarf gegeben hätte.
V. Erste unterinstanzliche Rechtsprechung
Auch ein Beschluss des Amtsgerichts Ludwigshafens befasste sich Ende 2022 mit dem Problem der Pflichtenkollision und der neuen Regelung des § 15b Abs. 8 InsO. Das Gericht lehnte eine analoge Anwendung von § 15b Abs. 8 InsO auf Sozialversicherungsbeiträge ab, da keine planwidrige Regelungslücke bestehe. Die unterschiedliche Regelung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen durch diese Vorschrift sei dem Gesetzgeber bewusst gewesen, und es fehle daher an der Voraussetzung für eine Analogie. Das Hauptargument der Befürworter einer analogen Anwendung, nämlich eine angebliche Hektik im Gesetzgebungsverfahren, wurde vom Gericht ebenfalls abgelehnt, da die Einführung des § 15b Abs. 8 InsO eine lange Vorgeschichte hatte und die Problematik der Pflichtenkollision bereits ausführlich behandelt worden war (AG Ludwigshafen, Beschluss vom 12.12.2022 – 3a IN 389/22).
VI. Praxisempfehlung
Die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen war schon vor Einführung des § 15b Abs. 8 InsO komplex und umstritten. Solch eine Rechtsunsicherheit ist natürlich nicht zu begrüßen, da eine einheitliche Regelung praxistauglicher gewesen wäre. Allerdings war sie aufgrund der unglücklichen Formulierung des § 15b Abs. 8 InsO durchaus zu erwarten. Die Auseinandersetzung in der juristischen Literatur über eine analoge Anwendung der Regelungen für Sozialversicherungsbeiträge ist keineswegs abschließend zu beantworten. Daher bleibt die klare Empfehlung bestehen, von einer simplen, in der Praxis zu risikobehafteten, Analogie abzusehen. Es bleibt leider nur abzuwarten, wie weitere Gerichte in ähnlichen Fällen entscheiden werden. Solange der Gesetzgeber keine Lösung für das geschaffene Problem parat hält, ist generell zu empfehlen, etwaige Zahlungen während der laufenden Insolvenzantragspflicht nur unter Hinzuziehung eines erfahrenen Insolvenzrechtsanwalts vorzunehmen, um eine persönliche Haftung und Strafbarkeit bestmöglich zu verhindern.
Rechtsanwalt Soeren Eckhoff – spezialisiert auf die Bereiche Insolvenzrecht und Sanierung
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